Zur Sprache wird der Mensch geboren.

„Zur Sprache wird der Mensch geboren. Reden soll er, antworten. In Worten denkt er und was  er sieht oder hört und was er fühlt, formt er zu Begriffen und Sätzen, in denen er begreift, was er vernimmt, sich selbst und andere. Die Sprache spannt eine Brücke zur Welt, eine Verbindung von außen nach innen und umgekehrt, die Sprache öffnet unser Leben, ermöglicht eine geistige Existenz. Wer nicht spricht, bleibt allein, verkümmert.

Im Reden begegnen wir der Gefährtin, dem Freund, dem Nachbarn und der Kollegin, der Widersacherin und dem Feind, den Nahen und den Fernen, diesen um so mehr, als wir heute die Mittel gefunden haben, unsere Worte bis an die Enden der Erde zu bringen.

So leben wir im Dialog, im Reden und Hören, zwischen zwei Polen. Im Ich und Du, im Du und Ich und treten so in das Wir gemeinsamen Lebens, in eine soziale Existenz. Auch wenn wir stumm sind, reden wir, bedienen wir uns der Sprache der Gesten. Wenn wir schweigen, können wir hören, lauschen. Reden und hören sind die beiden Pole menschlicher Kommunikation. Wer sprechen will, muss zunächst zuhören können; denn Sprache will gelernt sein. Jeder weiß, nur durch Hören lernt das Kind zu sprechen. Sprechen heißt zuallererst nachsprechen, was viele Generationen vor uns vorgesprochen haben. Darum ist unsere Sprache wie kaum etwas anderes mit der Geschichte verflochten. Aus der Tiefe der Vergangenheit erwächst uns unsere Sprache, und wer meint, das leugnen zu müssen, um sich davon zu befreien und lediglich selber gemachte Worte zu suchen, würde bald nicht mehr verstanden. Nichts ist so traditionell wie unsere Sprache. Sprechend zu leben, in der Sprache zu denken, Worte zu gebrauchen und Sätze zu formulieren, Begriffe zu prägen und Geschichten zu erzählen, führen das Leben in ein unablässiges Zwiegespräch, das nie verstummt. Das gilt für alle Seiten unseres Daseins …“

 

Gerhard Röddinger

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